MenuSI
Close Menu
Screen & Stage

Der Organismus

Den Häftlingen, die vor mir entlassen worden waren, hatte man Flugzeuge nach Den Haag geschickt. Ich war der erste, der kein Volksheld war, und darum streckte mir der Wachmann ein Bahnticket nach Sarajevo rüber. Zum Abschied grüßte ich mit „Tot ziens“, und er antwortete mit einem unzweideutigen „Tot nooit, hopelijk!“

Im Zug konnte ich den Blick nicht vom Fenster lösen: Alles lief, war in Bewegung. Häuser, Städte, sie glitten vorbei, fort, ein Strom der Veränderung nach elf Jahren Bewegungslosigkeit.

Beim Umsteigen in Düsseldorf fühlte ich mich wie ein Geist bei seiner ersten Wiederkehr. Ich machte einem Mann Platz, der ein Selbstgespräch führte, ein deutliches Zeichen geistiger Verwirrung in dem Jahr, in dem ich eingesperrt wurde, jetzt eine allgemeine Erscheinung. Ohren mit Ohrstöpseln, Münder ohne Zigaretten.

Hinter München wurde die Landschaft immer gepflegter. Die Österreicher mischen Schönheit in die Symmetrie und Sauberkeit, Fenster erbrachen Nelken aus Häusern, die für die Ewigkeit gebaut sind. Der Zug fuhr in den Tunnel ein und kam in Slowenien wieder zum Vorschein. Ich hatte das riesige Eisenwerk erwartet, einst der Stolz Jugoslawiens, aber sie hatten nur einen Schlot stehenlassen und ihn mit Reklamen für Großkaufhäuser und Markenartikel beklebt.

Ich wunderte mich, dass niemand in mein Abteil kam – Europa, natürlich. Die Staatsmacht trat erst an der kroatischen Grenze ein. Zuerst das slowenische Paar. Ein junger Polizist sah sich verblüfft meine Papiere an und las mehrmals, Silbe für Silbe: „Den Haag – Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“, als lernte er gerade lesen, dann blies er sich schon giftig auf, was mich aber nicht sonderlich beeindruckte. Der Grenzer zog ihn aus dem Abteil, flüsterte, dass ich nicht ihr Problem sei, und sie gingen. Das kroatische Paar wusste nicht, wie es reagieren sollte; sie hatten ihren Krieg mit den Moslems gehabt, und einige aus ihrer Sippschaft waren meine Mithäftlinge gewesen.

In Zagreb kaufte ich mir Zeitungen. Die Kroaten hatten gerade einen ihrer Verbrecher, noch aus dem Zweiten Weltkrieg, begraben. Er hatte ein Lager befehligt, in dem mindestens 70.000 Menschen umgebracht worden waren. Auf dem Begräbnis hatte der Geistliche über ihn gesagt, dass er sein Leben lang gut geschlafen habe, denn er habe ja Gott auf seiner Seite gehabt.

Nach Bosnien kam ich auf der serbischen Seite, und als ich dem Polizisten meine Papiere reichte, stand er still und salutierte wie ein Spielzeug zum Aufziehen. Das Personal der kleinen Station begann auf dem Bahnsteig herumzugehen und die Hälse zu verbiegen, um mich zu sehen.

Ich drückte mich in meinen Winkel, und die Scham legte sich auf mich wie eine eisige Decke.

Dem Bahnhof in Sarajevo sah man nicht an, dass der Krieg vorbei war. Die Rauchwolken, die sich aus den Bars davor wälzten, bezeugten aber, dass es noch Staaten gibt, deren Bewohner durch Zigaretten einatmen. Ich wartete auf dem verlassenen Bahnsteig, bis mein Bus kam, dann lief ich mit eingezogenem Kopf hin und stieg ein.

Ich hatte niemandem gesagt, dass ich in meinen Geburtsort zurückkomme. Meine Frau hatte ich zum letzten Mal vor Gericht als Zeugin der Anklage gesehen. Sie hatte unter Eid ausgesagt, dass sie mich beschworen hätte, die Fabrik aufzulösen, von mir aber mit Schlägen zum Gehorsam gezwungen worden sei. Der Gedanke, dass dieselben Lügen auch meine zwei Töchter zu hören bekamen, ergoss sich mir wie Säure aus dem Herzen in den Magen und hinterließ eine Spur der Verwüstung. Für ihre Aussage bekam sie eine neue Identität und einen Neuanfang für sich und die Töchter, und ich die Scheidungspapiere in meine Zelle. Als ich sie unterschrieben in das Kuvert steckte, legte ich einen Zettel bei, mit der Bitte, dass sie mit den Töchtern nicht über mich reden solle. Eine Antwort kam nie.

Solange in Jugoslawien der Sozialismus herrschte, wollte man auch Bergbauern in Arbeiter umwandeln, und überall wurden Fabriken gebaut. Jeder, der in der Partei irgendwas galt, mochte er auch in der hinterletzten Einschicht geboren sei, beschenkte seinen Geburtsort mit einem Produktionsbetrieb, wie das damals hieß. Die Größe der Anlage korrespondierte mit seinem Status in der Partei. Unser Wohltäter war ein unterer Funktionär in Sarajevo, also war die Fabrik nicht groß, und in ihr wurde etwas so Simples produziert, dass die Bauern von gestern rasch begriffen und begannen, ihr Einkommen aufzufetten. Der Kapitalismus fand seine Arbeitskraft in China, und die politischen Fabriken gingen bankrott.

Im Bus war ich einer der wenigen Fahrgäste und der Einzige, der in diesem Dorf ausstieg. Ich wollte nicht zur Fabrik hinsehen, aber ich konnte nicht anders. Die Mauern bröckelten und stürzten ein, der Stacheldraht auf ihnen war welk. Ich hatte einen Erinnerungsanfall erwartet, aber nur der Wind, den ein Sommersturm zurückgelassen hatte, hustete ein paarmal asthmatisch, über einem benachbarten Hügel hing noch eine Schleppe nassen Haars. Die Adern winziger Sturzbäche furchten den Sand auf dem Weg, und meine Schuhe waren noch nicht mal richtig nass, als schon Männer an mich herantraten.

Ich erkannte sie sofort und wunderte mich zugleich, dass sie älter geworden waren. Größere Bäuche, tiefgeschnallte Gürtel, eher graues Haupt- und Körperhaar, etliche Leberflecke auf der Haut, aber noch immer die leicht schmutzigen ärmellosen Leibchen und die Stoppelfelder im Gesicht, rasiert wurde nur vor der Sonntagsmesse. Ins Gefängnis hatten wir bosnische Zeitungen bekommen, und die anderen Häftlinge hatten mit ihren Angehörigen telefoniert und so die Neuigkeiten erfahren, die ungedruckt geblieben waren. Ich wusste, dass sich Jovo aufgehängt hatte und dass Milojko gestorben war. Die übrigen sieben standen vor mir, nur Nikola war nicht da.

Sie sahen mich an, und hinter ihnen, hinten im Dorf, spürte ich die Blicke ihrer Frauen und Kinder und auch jener, die nicht Teil unserer Gemeinschaft waren.

Mir wurde bewusst, dass meine nächste Bewegung über die Art meiner Aufnahme entscheiden würde.

Ich versuchte es mit einem Lächeln. Es erschien mir verlogen, mechanisch, ein bloßes Auseinanderziehen der Mundwinkel, aber sie merkten es nicht.

Geschrei, regelrechtes Gebrüll, Klatschen auf die Schultern, den Rücken. Der Geruch nach ungewaschenen Körpern, nach Vieh, Maschinen- und Heizöl. Einer nahm mir die Tasche ab, wir gingen, ich folgte nur, zwischen sie eingespannt. Sie boten mir Zigaretten an, ich lehnte ab, sie fuchtelten verwundert mit den Händen und schrien „Europa! Europa!“ Wir gingen in Canes Gasthaus, und der Eigentümer stieß sich diesmal nicht die Stirn am Türstock, die Jahre hatten sein Rückgrat endlich genug gekrümmt. Drinnen hatte sich nichts verändert: im Eck die Schank, klein und unbedeutend, Tische über den größeren Teil des Raumes verteilt, zum Sitzen und Reden und Zusammensein. Ich weiß nicht, warum, aber im Gefängnis liebte ich es, mir Hochglanzzeitschriften für Innenausstattung anzusehen, und ich bemerkte, dass die Lokale außerhalb des Balkans anders aussehen; die Schank steht mitten im Lokal wie ein Heiligtum, um welches sich einsame Leute scharen, um in den Spiegel hinter den Flaschen zu starren.

Cane brachte Rakija, erst mal anstoßen. Wir hoben die Gläser nicht gegen das Bild an der Wand. Jahrzehntelang hatte von dort Tito auf uns heruntergesehen, dann ein paar Jahre lange Milošević, jetzt hing dort der Heilige Sava, dessen Haltbarkeit eher wenig Veränderung erwarten ließ.

Sie brachten eine Portion Lammbraten, das Fleisch war kalt und glitschig. Der Lärm und das Nachschenken dauerten an, ich wollte mich nicht betrinken, schlürfte nur den Überstand vom Glas. Sie merkten es sicher, aber mir schien, dass sie nicht aufhören wollten, zu poltern, denn dann wäre Stille eingetreten, und sie hätten reden müssen.

Ich fragte sie, wie es ihnen ging, was sie trieben, und ich musste es noch ein paarmal wiederholen, ehe sie zu erzählen begannen. Darüber, dass sie wieder Bauern waren und Pavle Mechaniker. Er rieb sich die dunklen und öligen Hände an seinem Bauchballen ab, und nur die Mitte seines Leibchens blieb weiß, wie eine Zielscheibe. Sie sprachen darüber, dass sie chinesische Ware schmuggelten und sie im Dreiländereck verscherbelten, überhaupt dort, wo Europa diese Zacke macht, und so, es geht, langsam, es geht. Sie erzählten es und erzählten es noch einmal und wieder, sie bewegten sich wie am Rand eines Abgrunds: standen in Sicherheit und wollten den nächsten Schritt nicht riskieren. Sie hätten mich jetzt fragen müssen, wie es mir ging, wie es dort gewesen sei, aber sie trauten sich nicht. Schon gar nicht über die Schlüsselfrage: warum ich mich gestellt hatte. Vor allem Branimir mit seinem Fuchsgesicht und den Hängebacken beeilte sich jedesmal, wenn ihnen die Luft auszugehen schien, zu reden. Ich erinnerte mich nicht, ihn je so hastig reden gehört zu haben.

Als wirklich nichts mehr zu sagen war und sie alle Arten des Schmuggels beschrieben hatten, als ich das Sortiment jedes einzelnen Standes kannte, erhoben sie sich und begleiteten mich zu meinem Geburtshaus. Sie sagten, dass sie es behütet hätten, dass keiner von denen auch nur in die Nähe gekommen sei. Sie händigten mir den Schlüssel aus, ich sperrte auf, und sie folgten mir nicht ins Innere.

Man verreist für ein paar Wochen, und wenn man zurückkommt, ist die Wohnung staubig. Nach einer mehrjährigen Abwesenheit aber konsolidiert sich der Staub, hört auf, sich zu sammeln, setzt sich, die Zeit läuft dahin, die Teilchen ruhen, nur der Geruch, der über ihnen schwebt, zählt die Tage und verknetet sie zu einer ganz eigenen Art von Muff.

Meine Frau hatte alles mitgenommen, was sich hatte fortbringen lassen, einschließlich der Waschmaschine, in die sie in jenem Winter meine blutigen Sachen warf, ohne irgendetwas zu sagen. Sie hatte nicht mal die Dinge dagelassen, die ihnen gehört hatten. Im Gefängnis war ich lange wütend auf sie gewesen, in einer meiner schlaflosen Nächte aber begriff ich, dass der Deal mit der Aussage nicht nur ihr, sondern auch unseren Töchtern nützte. Sie wuchsen jetzt außerhalb von Staaten auf, in denen die Geschichte lediglich als Checkliste für Racheaktionen und nicht als Lehrbuch dient. Ich empfand Freude für sie, gleichzeitig nahm ich das als Teil meiner Strafe an. Was ich getan hatte, was wir getan hatten, hatten wir für die Nachkommen getan. In jenem Winter waren sie drei und vier Jahre alt gewesen, also träumten sie jetzt wahrscheinlich nicht einmal mehr in meiner und in der Sprache der Vorfahren, auf die wir uns berufen hatten. Ich versuche, nicht an die beiden zu denken, aber wenn am Abend meine Gedanken verfliegen, bleibt eine Schwade immer bei ihnen hängen und verdichtet sich schmerzhaft.

Alles, was im Haus geblieben war, trug ich in einem Zimmer zusammen: ein altes Sofa, einen knarrenden Stuhl, einen Tisch aus dem Keller, der seinerzeit nur noch für die Werkstatt getaugt hätte. Ich drehte die Wasserhähne auf und ließ das Wasser laufen, bis es nicht mehr rostig war.

Was nun?

Ich machte einen Spaziergang. Die Wolken zogen nur noch letzte Schweife über die Berge, die Sonne, die im Tal unten brannte, streichelte hier oben nur mehr. Hinter mir hörte ich einen gedämpften Aufschrei der Angst, und als ich mich umdrehte, sah ich den Rücken einer Frau und eine rasche Bewegung ihres Ellbogens, während sie hinterm Hauseck verschwand.

Hatte sie sich bekreuzigt, weil sie einen Geist gesehen hatte?

Wir hatten ihre Häuser niedergebrannt, und ich hatte Ruinen erwartet, doch waren nur sehr wenige übrig. Den Großteil hatte man zu renovieren begonnen. Statt verkohlter Reste fand ich betonierte Bodenplatten und darauf höchstens eine Mauer oder zwei. Als hätte jemand deutlich gemacht, dass er nicht aufgegeben hat, dass er noch da ist.

Wo?

Ich schritt an unseren Häusern vorbei, und meine Leute grüßten mich laut und hohl, der Rest wich zurück. Türen und Vorhänge schlossen sich vor mir, und wenn ich ein Stück weit weg war, öffneten sie sich wieder, und ich spürte im Rücken, wie man mir nachsah. Ein wenig außerhalb vom Dorf stand die Fabrik, dorthin konnte ich nicht. Ich kehrte bei Nikola ein.

Von der Hausmauer fiel der Verputz und Dachziegel gesellten sich zu dem Gerümpel im Hof. Ich klopfte an die offene Tür, keine Antwort, ich trat in den Gestank ein.

Er lag in seinem Winkel und schlief. Ich setzte mich auf die Bank und stellte meinen Fuß auf eine der der leeren Flaschen. Seine Kartoffelnase war all die Jahre damit beschäftigt gewesen, Äderchen anzusammeln, seine aufgeblähten Wangen pumpten unter Getöse Luft in die Lungen, und diese gaben mit einem langgezogenen Winseln nach und klangen beinahe, als versuchten sie, Volkslieder zu singen.

Es wurde schon dunkel, als er aufwachte. Er hob den Kopf, der pendelte, als müsste er sich erst einen Platz erkämpfen, seine Augen stellten zumindest ein bisschen scharf, und als er mich erkannte, schrie er auf.

„Nein! Ich geh nicht auf Bereitschaft! NEIN!“

„Nikola, das ist vorbei, keiner ist mehr auf Bereitschaft.“

Sein Husten ging in Kotzen über, ohne dass mehr als Schleim auf den Boden gefallen wäre.

„Haben sie dich freigelassen?“

„Ja.“

Wir schwiegen.

Halb auf allen vieren ging er ins Nebenzimmer und er kam mit einer vollen Flasche zurück. Fast ein Drittel davon gluckerte er in einem Zug hinunter.

„Hast du sie getroffen?“, fragte er.

Ich nickte.

„Warum bist du zurückgekommen?“

Er sah mir zum ersten Mal in die Augen.

Ich seufzte und fand keine einfachen Worte. Er antwortete an meiner Stelle:

„Damit du siehst, wie die andern damit umgehen … und du?“

„Ich kann nicht schlafen.“

Er nickte.

„Ja, und ich bin nicht wach. Magst du?“

Er bot mir die Flasche an.

Ich schüttelte den Kopf.

„Wenn ich das erste Jahr in der Haft hätte saufen können, dann ja. So aber nein, danke.“

„Hast du das von Jovo gehört? Er ist tot.“

Aus dem schlaffen und weichen Körper schnellte erstaunlich rasch eine Hand hervor und zog waagrecht über den Hals.

„Milojko ist auch tot.“

Nikola schlug sich die Fingerspitzen in die Wampe und ließ sie darin versinken.

„Er ist …“, er suchte lange nach dem richtigen Wort, „… vertrocknet.“

Dann sagte er noch:

„Hör zu, Meister, hör zu. Das ist das eine. Du kannst sterben, schnell wie Jovo oder langsam wie Milojko.“

Mit dem Pathos des Säufers fügte er hinzu:

„Ich.“

Er nahm eine lange Atempause, bevor er fortfuhr:

„Du kannst dir das Tempo aussuchen, das ist alles. Sonst hast du die Möglichkeit, zu vergessen, wie es unsere übrigen Kollegen getan haben, aber du musst so sein wie sie. Du hast gesagt, dass du nicht schlafen kannst, dann bist du nicht wie sie.“

Er deutete zur Fabrik rüber, aber in die falsche Richtung.

„Warum bist du noch am Leben? Wie bringst du dich um?“

Ich wollte ihm antworten, aber er ließ mich nicht.

„Meister, keiner will dich hier haben. Keiner hat auf dich gewartet. Du bist ein Geist, eine Erinnerung. Bitte, tu uns allen den Gefallen!“

Es sah aus, als wollte er loslachen, aber er kreischte nur. Er bog sich übers Bett, ich dachte, er würde wieder kotzen, aber er tauchte seinen Kopf in einen Haufen Plunder und kramte lange darin herum. Wie mit einer Zuckung drehte er sich um und schmiss ein zusammengewickeltes Seil in meine Richtung. Er verfehlte mich um einen guten Meter.

Er zischte mich an:

„Hast du’s genossen, als Fotomodell für deine internationale Karriere zu posieren? Ha? Warum hast du nicht diesen Fotografen gesehen und ihn erschossen? Ha?“ Wieder kreischte er, zwischen seinen Zahnstümpfen glänzten Reste von Schmelz auf.

„Kommandant!“, sagte er noch, als spuckte er.

Im Bauch spürte ich den Hass, der von ihm abstrahlte. Ich reagierte nicht, darum interessierte er sich nicht mehr für mich. Er neigte die Flasche und ließ den Inhalt in sich laufen. Er warf sie gegen die Mauer, sie zersprang, er legte sich aufs Bett, krümmte sich zu einem Embryo zusammen und zeigte mir den Rücken.

Stille.

Der Sozialismus wollte die Arbeiter kulturell veredeln, wie es hieß, und manchmal gastierte auch in unseren Hügeln irgendein Theater, üblicherweise ein Amateurensemble aus einer der nahegelegenen Städte. Diese übertriebenen Bewegungen und Gesten haben mich immer abgestoßen. Wenn du eingesperrt bist und nicht schlafen kannst, ist der Tag lang genug für alle möglichen Erinnerungen, auch an Theatervorstellungen. Saufen sich denn die Männer in unserem Volk andauernd an, damit sie zeigen können, was sie fühlen, und zwar auf die übertriebene Weise schlechter Schauspieler? Ich erinnerte mich an besoffene Zusammenkünfte, lebenslange Freundschaften nach der ersten Runde, die sich in erbitterte Äußerungen des Hasses nach der zweiten und wundersame Beschwichtigungen nach der dritten verwandeln, und dann wieder von vorn. Und wenn du erst mal kein Mann mehr bist, der trinkt, sondern nur noch ein Säufer männlichen Geschlechts, sind auch die Gefühle futsch, und übrig bleiben nur mehr eine groteske Sentimentalität und am Ende das Pathos.

Er bewegte sich nicht, als ich aufstand.

Das Dunkel verschluckte Nikola langsam, ich sah nur mehr seine Füße und seine rechte Hand. So hatte die Erde nach jenem Winter Körperteile freigegeben. Cane hatte sie als Erster erwähnt, hinten rum, er hatte etwas über seine Kühltruhe geredet, die kaputtgegangen sei, und dann noch gesagt, dass es auch auf dem Feld so aussehe, abgesehen von den Krähen. Seine Schilderungen waren immer unzuverlässig, darum ging ich nachschauen. Und als ich die freie Fläche zwischen Fabrik und Wald betrat, schoss mir zum ersten Mal ein: Das haben wir getan? Im Winter hatten wir die Leichen wegen des Frosts nicht tief genug verscharren können, mit dem Tauwetter aber kamen die Füchse und andere Tiere und begannen sie auszugraben. Die Reste krochen aus der Erde, hier eine Hand, dort ein Fuß, ein Rumpf, zwei Köpfe, halb abgefressene Knochen markierten den Weg zum Wald. Krähen hüpften darauf herum, rissen an ihnen, zu vollgefressen zum Fliegen, verärgert und arrogant wichen sie nur einen Schritt von mir zurück. Der Geruch, den ein Feld nach dem Pflügen absondert, war mir immer schmerzvoll erschienen, aber der hier drehte mir den Magen um. Ich schloss die Augen, damit mir nicht schlecht wurde.

Den amerikanischen Fotografen, der im Wald versteckt war, sah ich nicht. Später erfuhren wir, dass er auf seinem Weg nach Sarajevo hier durchgekommen war, die Grenzwächter bestochen und mit ihnen gesoffen hatte. Irgendwann war es für seinen Magen zu viel gewesen, und er hatte seinen Führer gebeten, den Jeep anzuhalten, und war in den Wald gelaufen. Im Moment der Erleichterung hatte er die Krähen bemerkt und war in ihre Richtung gegangen.

Die erste Aufnahme, die er gemacht hatte, zeigte meinen Moment der Schwäche. Als solchen habe ich ihn Erinnerung, auf dem Foto aber wirkt es, als würde ich den Anblick genießen. Das Bild erschien eine Woche später in der ausländischen Presse.

Als ich in jener Nacht in die Fabrik kam, sagte ich zu den andern, dass wir die Leichen woanders begraben müssten. Sie sträubten sich, schmutzige Arbeit. Eine Woche lang zankten und stritten wir, dann kamen die Fotos in die Medien, und – oh, wir gruben wie die Besessenen! Wir scharrten die Leichname frei, verbrannten sie und streuten die Reste in den Fluss. Vor dem Ausland hatten wir keine Angst. Der Westen war ein kraftloser Schwächling, nicht einmal in Srebrenica ein Jahr später sollte er einen Finger rühren. Aber unter den Leichen der Moslems waren auch einige unserer Wochenendkämpfer, die sich am Freitag nach Feierabend bewaffneten, von Serbien nach Bosnien fuhren, irgendein Haus plünderten, irgendeinen Einheimischen umbrachten und dann am Montag wieder in der Arbeit erschienen. Gelegentlich kamen Wochenendkämpfer in unser Dorf. Wir stoppten sie und sagten, dass es hier nur unsere Moslems gebe, die mit allem, was sie hätten, uns gehörten. Zum Großteil fuhren die Ortsfremden murrend weiter, einige aber waren zu betrunken und mutig. Wir wollten nicht, dass ihre Leichen entdeckt wurden.

Die Dunkelheit hatte Nikola jetzt ganz verschluckt.

Unterwegs bückte ich mich und hob das Seil auf.

Einen neuen Rundgang unternahm ich erst, als mich am nächsten Tag der Hunger dazu verleitete. Aus dem Augenwinkel sah ich Branimir, wie er eine schwere Kartonschachtel um ein Hauseck trug. Als er mich sah, machte er rücklings kehrt wie in einem rückwärts laufenden Film. Ich blieb beim offenen Kofferraum seines Autos stehen, aber er ließ sich nicht mehr blicken.

In Pavles Autowerkstatt – ohne Firmenschild, alles schwarz – traf ich nur seine Füße an. Er guckte unter einem Fahrzeug hervor, entschuldigte sich, dass die Arbeit hier dringend sei, ich solle nur reden, er höre mir zu. Ich ging.

In Canes Gasthaus war ich der einzige Gast. Er brachte mir aufgeschnittenes Brot und stellte eine Portion Braten in den Mikrowellenherd. Mein Blick schweifte zu dem großen Grill, über dem sich einst ununterbrochen der Spieß gedreht hatte, Cane winkte mit dem Geschirrtuch ab, einmal in der Woche oder alle vierzehn Tage heize er ihn an, wenn’s hochkommt. Nach dem Krieg kämen am Sonntag keine Familien mehr zum Essen, jammerte er und seine Augen bliesen sich auf wie bei einem unglücklichen Kind. Ich dachte daran, dass auch wir hier gegessen hatten, und fragte mich: Können sich meine Töchter erinnern? Bin ich nur eine Präsenz ohne Gesicht? Verlieben sie sich in Burschen, die mir ähnlich sind, ohne zu wissen, warum? In der Früh, wenn ich aus der Fabrik zurückkam und mit meiner Frau die gestohlenen Sachen durchsah, waren sie noch im Bett. Manchmal half mir jemand, einen Fernseher, einen Kühlschrank oder irgendein anderes großes Gerät aus einem der muslimischen Häuser zu bringen, andere Male ging ich nur ins Bad und warf meine blutigen Kleider auf die Fliesen. Ich verschlief den Großteil des Tages bis zum familiären Abendessen, dann las ich den Mädchen eine Gutenachtgeschichte vor und ging wieder in die Fabrik. In die Arbeit, sagte ich zu den beiden. Bevor ich ging, trank ich mit meiner Frau in der Küche einen Kaffee. Mit plötzlichem und bitterem Zorn erinnerte ich mich jetzt an ihre gewundenen Hinweise auf Dinge, die wir wirklich brauchen würden, oder an die Erwähnung von etwas wirklich Besonderem, das sie bei diesem oder jenem muslimischen Nachbarn gesehen hatte. Ihre Finger glitten dabei über die Tasse hin und besprengten meine Nasenlöcher mit Duft.

Ich schaute die Stellage im Eck an. Auf ihr standen noch immer die fünf Vasen mit den Plastikblumen, nur dass der Staub ihre blitzenden Farben erstickt hatte. Unter der Woche war das ein Gasthaus nur für Männer, sonntags aber stellte Cane die Vasen auf und erzeugte eine Familienatmosphäre, wie er das nannte. Früher einmal hatte er sich zu einem neuen Gast dazugesetzt, bei jedem auch eine Kleinigkeit mitgetrunken oder -gegessen und sich so die Statur eines richtigen Gastwirts erarbeitet, jetzt blieb er hinter der Schank und wischte Gläser. Als er mir das aufgewärmte Essen brachte, setzte er sich schon fast nieder, ein Körperreflex ließ seinen Hintern der Sitzfläche entgegenschwingen; aber er kam zur Besinnung, jammerte etwas von wegen Arbeit und ging wieder hinter die Schank.

„Erinnerst du manchmal noch daran?“, fragte ich ihn.

„Woran?“, fragte er und machte große Augen.

Ich deutete in Richtung Fabrik.

„Ah … ah …“, winkte er ab, „was war, das war … naja, entschuldige … du hast gelitten … du bist ein Held … aber für uns Normalsterbliche …“

Tropfen traten ihm auf die Stirn, er laberte noch weiter.

„Träumst du nicht?“, fragte ich ihn.

„Nein.“ Tropfen auch auf der Oberlippe.

„Keine Albträume?“

„Nein. Ich erinnere mich an nichts, da …“

„Denkst du nicht dran?“

„Lass es, Kommandant, lass es, bitte! Das ist weg, das waren andere Zeiten, seltsame Zeiten! Etwas ist in der Luft gelegen, es wird nicht mehr passieren, es ist vergangen. Als hätten wir die Grippe gehabt, ja, so ist es. Wenn du nicht ganz bei dir bist, dann vergeht eine Woche … ein Winter, und dann bist du wieder dieses gesunde Ich. Kommandant, gib dich nicht damit ab, vergiss es!“

„Cane, hör auf, mich Kommandant zu nennen! Du weißt, dass ich nur Werkführer war, solange wir in der Fabrik gearbeitet haben. Diesen einen Winter aber … da haben wir gemeinsame Sache gemacht.“

Er wusste, dass es den Generälen darum gegangen war, dass jemand die Verantwortung für unser bisschen Einheit übernahm, und dass sie halt mich dazu bestimmt hatten, wenn ich schon vor dem Krieg Werkführer gewesen war.

Cane hatte gleich wieder die Augen eines verletzten Kindes:

„Aber … du warst der Chef! Ich war so unbedeutend, du weißt doch, ich bin nur ein Gastwirt.“ Er versuchte ein paar zusätzliche läppische Worte zu finden, aber es ging nicht. Er bettelte nur: „Wen juckt das, vergiss es, vergiss! Ich hab alles vergessen!“

Ich begann zu essen. Eine Weile blieb er so angespannt, dass ich erwartete, das Glas unter seinen Händen knirschen zu hören, allmählich aber beruhigte er sich, und das Geschirrtuch glitt wieder über die Gläser, die er schon zum zweiten Mal polierte. Ich aß auf und wischte mir Mund und Finger in der Serviette ab. Cane wurde wieder nervöser, gelegentlich schaute er verstohlen in meine Richtung und hatte Angst, ich könnte ihn etwas fragen.

„Und was ist mit ihren Häusern, den renovierten?“

Er brach in Erleichterung aus: „Hast du sie gesehen? Das ist unglaublich! Sie sind von sich aus gegangen, sie hätten bleiben können, so ist es auch im Friedensabkommen gestanden, aber sie sind gegangen, und jetzt … Kommandant, du wirst es nicht glauben. Diese Muslime sind wie die Zigeuner, überall in der Welt haben sie sich niedergelassen, aber die Männer kommen im Sommer gefahren, sind eine Woche oder zwei da und bauen. Sie schlafen im Auto, bringen im Kofferraum das Material herauf und bauen. Vertun so ihren Urlaub! Auch das Essen kaufen sie sich im Tal unten, zu mir kommen sie nicht! Wir haben nichts von ihnen! Du wirst sie ja sehen, ihre Saison fängt gerade an.“

Er hätte noch reden wollen, aber der aufgehende Mund fand keine Worte mehr.

„Was bin ich schuldig?“

„Kommandant, ist schon gut! Gerade gestern haben wir darüber geredet, wenn du willst, machen wir eine Sammelaktion und helfen dir, neu anzufangen. Am Dreiländereck geht das Geschäft super! Wir beschaffen dir einen Stand! Musst nur sagen, was dich mehr interessiert, Technik, Musik, Mode? Oder vielleicht Chinesen und Afrikaner nach Europa schleppen?“

*

Auf dem Heimweg blieb ich vor der blanken Betonplatte stehen, wo früher einmal Seads Haus stand. Ich legte die Hand auf die staubige Oberfläche und spürte durch die warme oberste Schicht schnell, wie kalt die Baustelle innen war. Mit der Belagerung Sarajevos hatten immerhin einige Moslems unser Dorf verlassen. Die meisten aber hatten geglaubt, dass es bei uns anders sein würde, dass die Verbindungen zwischen uns halten würden. Ich war mit Sead zur Schule gegangen, sein Vater hatte mir den Trick mit der Münze und dem Hund beigebracht, Brüderlichkeit und Einheit war der Slogan von Titos Jugoslawien gewesen. Im Sommer 1992 saßen wir dann bei Cane und schauten die Nachrichten. Der russische Schriftsteller Limonow war zu Besuch bei unseren Truppen über Sarajevo, und auch er schoss auf die Stadt. Mutter Russland ist mit uns, sagte der Moderator.

Canes Hand schlug von weit oben auf den Tisch. „So ist es recht!“, sagte er, „das ist für die Pilze!“

Durch Wolken von Alkohol drehten sich unsere Hälse langsam nach ihm um.

„Kommen sie etwa im Winter? Ha?“ Cane hob den Zeigefinger fast bis zur Decke. „Kommen zu uns und parken auf unseren Feldern?“ Er sah Branimir an, der nickte. „Treten uns das Gras zusammen! Gehen in den Wald und brocken uns die Pilze weg! Machen dort dann manchmal noch ein Picknick, auf demselben Gras! Und die bringen alles mit, kaufen nichts bei uns, lassen uns nur ihren Müll und die Kosten! Die Sarajever, diese Schnösel!“

„Stimmt, du hast recht“, sagten wir nickend.

Er fuhr fort: „Die Leute aus der Stadt … für die sind wir doch Idioten! Die halten sich für was Besseres! Die sind wie die Türken, seit Jahrhunderten geht das so, rein, alles plündern, wieder raus. Diese Muslime! Endlich ist die Zeit für unsere Rache gekommen! Sollen die Städte brennen!“

Ich erinnere mich nicht an viel aus dieser Nacht, aber langsam, einer nach dem andern, wurden wir zu Wochenendkämpfern über Sarajevo, bis wir in jenem Winter den Krieg nach Hause brachten.

Bis dahin war die Hälfte der Moslems schon aus dem Dorf geflohen. Sie hatten ihre serbischen Freunde gebeten, auf ihr Hab und gut aufzupassen. Einige taten es, andere nicht, wieder andere zogen einfach in ihre Häuser ein. Vor jenem Winter aber war an Flucht nicht mehr zu denken. Einige wenige versuchten es nachts noch über die Hügel, von denen sollten wir nie wieder etwas hören.

Seads Vater war aus Sturheit geblieben. Er müsse den Kompressor in der Garage bewachen, sagte er. Im Dezember aber ging in Pavles Werkstatt der Kompressor kaputt, und wir gingen in Seads Haus. Den Vater brachten wir in die Fabrik, er war unser erster Gefangener, alle anderen kamen nach ihm. In Haag wurde ich für fünf Morde unter meinem Kommando angeklagt. Ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht, wer noch am Leben und wer tot war, als die Übriggebliebenen im Frühjahr mit einem humanitären Konvoi fortgebracht wurden. Wir folterten und töteten sie, weil wir glaubten, es mit Spionen und Verrätern zu tun zu haben. Aber unser Glaube war wie ein Ballon, wir mussten ihn ständig mit Geschrei, mit Raserei füllen, mit unablässiger Bewegung, andauernd im Schwung, nie am Überlegen. Einige unserer Nachbarn gestanden. Seads Vater gestand nicht, er starb in der dritten Verhörnacht.

Ich ging heim und knüpfte eine Schlinge. Die Hände vergessen nie, das Seil lief wie geschmiert.

Wie oft hatte ich darüber nachgedacht, wie die andern ertragen mochten, was wir getan hatten. Ich kam her, um es aus der Nähe zu sehen; und ich sah es auch: Cane war Gastwirt, Pavle Mechaniker, Branimir Bauer gewesen und so weiter, dann war die Idee von unserem Großstaat gekommen und wir hatten getan, was wir getan hatten, und jetzt war Cane wieder Gastwirt, Pavle Mechaniker, und Branimir verkaufte chinesische Ware, weil man vom Boden nicht mehr gut leben lohnte. Und das war’s? Wie Cane gesagt hatte: eine Grippe, die von irgendwo gekommen war und uns infiziert hatte?

Etwas, das jetzt nicht mehr in der Luft lag? Wirklich?

Ich sagte zu Cane, dass ich das Angebot mit dem Stand annehmen werde. Wir sollten uns doch am Abend treffen, alle zusammen, etwas trinken und ein wenig das Geschäftliche besprechen.

Als ich eintrat und sie fröhlich begrüßte, hoben sie die Arme, und die Luft wurde weit vor Erleichterung. „Meister, Meister“, riefen sie, und Cane kam mit Flaschen im Arm wie mit strammstehenden Neugeborenen gelaufen.

Wir umarmten uns, und jemand rief laut nach Musik.

Cane legte eine CD ein, und eine Weile tranken wir nur. Branimir begann mit der Sängerin mitzusingen, ein wenig daneben, setzte manchmal zu früh oder zu spät ein, die Tränen sprangen ihm aus den Augen und er bespülte mit der flachen Hand seine Stirn.

Wir umarmten einander.

Ich hörte ein paar Tricks, wie man chinesische Ware erfolgreicher an den Mann bringt, vor allem an die Europäer, wie nun die Angehörigen jener Teile des einstigen Staates, die sich der Union angeschlossen hatten, genannt wurden. T-Shirts musste man von den Aufdrucken gesondert aufbewahren und sie der Nachfrage entsprechend bekleben. Pavle fügte hinzu, dass er bei den Autoteilen dasselbe machen müsse, einige Kunden seien widerlich genug, für ihr Geld Originale haben zu wollen.

Noch mehr Umarmungen, wieder ein Lied, Tränen, neue Flaschen.

„Und die Moslems, die herkommen, um ihre Häuser zu bauen, kaufen die was?“

Knurren, Flüche, sie kaufen nichts, nein!

Cane vergaß, dass er mir schon geklagt hatte, und erzählte alles noch einmal, zweimal. Von denen kommt nichts.

„Aber ist das in Ordnung?“, fragte ich.

Nein, es gibt keine Gerechtigkeit, auf dieser Welt nicht!

„Haben wir dafür gekämpft?

Gegröle. Verneinung.

Eine neue Runde. Ex.

„Sind wir solche Weicheier, dass wir das Unrecht, das sie uns antun, einfach hinnehmen?“

Nein, sind wir nicht!

„Dass wir leiden, wie wir schon lange leiden?“

Kommt gar nicht in Frage! Was die uns antun! Eine Schande!

„Werden wir das hinnehmen?“

Nein! Es reicht! Nein!

„Werden wir wirklich zulassen, dass sie uns schlagen?“

Niemals! Niemals!

„Werden wir unseren tausendjährigen Traum verwirklichen?“

Das werden wir! Führe uns! Gehen wir!

Ich ging zur Tür und machte sie weit auf. Ich spürte sie hinter mir atmen, schweißnass, erhitzt, vor Aufregung zitternd.

Ich stemmte mich mit den Händen gegen den Türstock und ließ sie auflaufen; sie blieben auf dem engen Raum stecken.

„Was ist? Was ist?“, schrie hinten jemand.

Ich drehte mich um und schaute ihnen in die Augen.

Nickte.

Cane ließ als Erster die Arme sinken, er begann sich unterm Gürtel zu kratzen. Sie folgten ihm rasch. Sie verstreuten sich im Raum, verrückten Stühle, zogen Tischtücher gerade, hoben ihre Kappen vom Boden auf – warteten, dass ich die Tür freigebe.

Ich saß auf dem Sofa und ließ die Schlinge zwischen Daumen und Zeigefinger schaukeln, als wäre ich beim Angeln. Wie oft hatte ich schon darüber nachgedacht, was uns, nicht allen, aber den meisten in diesem Dorf, in den anderen Dörfern, in den Städten passiert war. Immer, wenn ich mich an die Parolen erinnerte, die wir geschrien hatten, traf mich im Innersten die Scham. Serbien ist dort, wo serbische Gräber sind: Warum Gräber, warum nicht Menschen? Brüllte man nicht in Spanien einst: Hoch lebe der Tod!?

Wie können sich erwachsene Leute so verändern, dass sie für nichtige Parolen zu Bestien werden, hatte ich mich gefragt. Wir leben so lange miteinander, bis uns Slogans zur emotionalen Masse verbinden. Zum Organismus, in dem sich kleine menschliche Begierden zum Antrieb vereinen und private Illusionen zur Ideologie. Wenn die Verbindung wieder aufgeht, steigen einige reinen Gewissens aus dem Organismus aus: Ich bin nicht schuld, ich hab ja nichts getan! Nikola war im Irrtum – es gibt kein Vergessen, es gibt nur das Warten. Jene, die sich aufs Vergessen ausreden, sind allezeit reif für den Eintritt in einen neuen Organismus, weil sie aus dem vorigen nichts gelernt haben.

Ich warf das Seil über den Dachbalken. Ich war vollkommen ruhig. Ich stieg auf den Stuhl, stellte mich auf die Zehen, legte mir die Schlinge um den Hals. Mit der linken Hand prüfte ich, ob sie schön glitt, und ich wollte mich abstoßen.

Ein Auto hustete und verreckte. Durchs Fenster erblickte ich einen alten Vauxhall mit englischem Nummernschild, der vor Seads Haus stehenblieb. Zuerst dachte ich, dass gar kein Fahrer drin war, dann aber ging die Tür auf der rechten Seite auf und Sead stieg aus. Er begann sich die Mauer anzusehen, die er im Vorjahr gebaut hatte. Ich konnte nicht anders als hinsehen. Er nahm einen Ziegel aus dem Kofferraum, schöpfte Mörtel aus einem kleinen roten Geschirr, verstrich ihn und setzte den Ziegel weich auf. Er klopfte ein paarmal darauf, wischte das überflüssige Bindemittel ab, ging und holte einen neuen Baustein. Wieder und wieder. Er schaute nicht um sich, vollkommen grau, leicht gebeugt trug er Ziegel um Ziegel. Er legte sie überkreuz zu einem Winkel, die erste Reihe, die zweite, die dritte …

Meine Zehen zitterten vor Anstrengung.

Er würde ein Haus bauen, das nie jemand bewohnen würde. Eine Hülle, ein Denkmal für die Folterer, die alles vergessen hatten. Wie sah wohl seine Familie diese Urlaube, diese lange Fahrt jedesmal? Hielten sie ihn für einen Sonderling, verstanden sie ihn?

Ich knickte ein und die Schlinge zog sich zu.

Tod, Vergessen. Ich war nur die abgestorbene Zelle eines Organismus, eine unbedeutende Schuppe, die abgefallen war und von der nie mehr jemand einen Nutzen haben würde. Ich war unbedeutend, ich konnte mich jetzt oder später umbringen, mit dem Strick oder mit Alkohol. Doch musste es noch eine dritte Möglichkeit geben, nicht nur die zwei, die Nikola aufgezählt hatte.

Ich nahm die Schlinge ab und sprang zu Boden. Ich ging zur Tür.

Ich kann nicht, ich kann nicht, wie soll ich das tun?

Ich begann zu zittern und zu schwitzen, nach der Schlinge zu sehen, beinahe ließ ich es schon, als mir der Gedanke schoss: Ist es denn wirklich leichter, neuerlich zu töten, als sich zu entschuldigen?

Während ich auf Sead zuging, überlegte ich, was ich sagen sollte, wie ich erklären sollte, dass für mich keine Stunde verging, in der ich nicht an jene Nacht dächte, dass ich nicht schlafen konnte, dass mich die Erinnerungen auffraßen …

Als ich bei ihm war, konnte ich nicht sprechen.

Er drehte sich nicht um, er mauerte weiter.

Ich fiel auf die Knie und schluchzte.

Ich weinte und kniete vor ihm, Sead aber mauerte, bis der Kofferraum leer war, dann verstaute er das Werkzeug und fuhr davon, ohne mich angesehen zu haben.